Fremde Gerüche, fremde Menschen, fremde Umgebung – und doch spüre ich, dass mich gleich etwas sehr tief berühren wird. Ich folge den Massen, und dann öffnet sich ein Raum – DER Raum vor mir. Plötzlich bin ich ganz allein. Allein in dieser Halle, in der kostbare Schätze aufbewahrt werden. Jahrhunderte alte Geschichten, Regal an Regal, Leder an Leder, Seite an Seite. Ich bin von ihnen umgeben, fühle mich von ihnen eingehüllt und geborgen. Spüre die Demut. Blende alles andere um mich herum aus. Möchte diese Kostbarkeiten berühren, mich in ihnen verlieren, sie betrachten und genießen.
Ich bin gerührt, unbemerkte Tränen laufen meine Wangen hinunter. Habe ich je die Kraft und den Wert von etwas so deutlich gespürt? Ich denke an meine Omili und wie sehr sie diesen Ort geliebt hätte…
(ich betrete das erste Mal den Long Room der Bibliothek des Trinity College Dublin)
Bücher.
Was für eine Macht haben Bücher? Was für eine Kraft haben Bücher?
Ich liebe es, zu lesen, mich in Geschichten zu verlieren und zu verlieben, andere Welten kennenzulernen und in sie einzutauchen, den Alltag zu vergessen oder zu bereichern.
Bücher bedeuten mir schon seit meiner Kindheit sehr viel. Wie habe ich es geliebt, vorgelesen zu bekommen! Diese so wertvolle Zeit mit einem Menschen zu verbringen. Meistens gemütlich aneinander gekuschelt, alles ausgeblendet und nur der Geschichte lauschend. Manchmal lachend, manchmal ängstlich angespannt, manchmal voller Fragen, aber immer mit der Sicherheit und Nähe des Vorlesenden.
Später dann in Höhlen aus Decken mit der Taschenlampe die Geschichten selbst erobern. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort in die Geschichte eintauchen. Der Phantasie die Zeit und den Raum überlassen… Was wäre, wenn ich Mio wäre? Könnte ich nicht auch mal so wie Pippi…?
Bis heute haben Bücher ihren Zauber für mich nicht verloren. Ganz im Gegenteil, sie werden immer nur wertvoller für mich.
Es gibt Bücher, die mich schon viele Jahre begleiten, die ich immer wieder in die Hand nehme und immer wieder verschlinge. Manche ihrer Wörter bleiben gleich, manche erschließen sich mir erst jetzt oder vielleicht später. Manche Sätze, die sich einbrennen in meinem Kopf wie ein Ohrwurm ohne Melodie. Mich über Stunden, Tage, Jahre begleiten und plötzlich, mit einem Mal einen Sinn ergeben, das Puzzle vervollständigen und tief in der Schatzkiste meines Herzens ihre Wirkung entfalten.
Manche Bücher muss ich einfach besitzen, sie in meiner Nähe wissen und dass ich sie jederzeit zur Hand nehmen kann. So manches Mal geben mir Bücher Kraft und begleiten mich auf meinen Wegen. Meine Bücher leben. Sie haben Ohren – Eselsohren – und sind manches Mal auch Tagebuch, wenn ich meine Gedanken in ihnen festhalte. Sie bewahren so manche Erinnerung – wenn die Konzertkarte mal wieder zum Lesezeichen wurde oder die Sandkörner vom Strand sich zwischen ihren Seiten verstecken.
Bücher und ihre Geschichten bedeuten für mich Achtsamkeit und Seelenpflege. Wie viel Kraft erhalte ich von einem durchgelesenen, faulen Sonntag, an dem ich das Buch erst zur Seite legen kann, wenn ich weiß, wie die Geschichte endet. Ich kann dem Alltag entfliehen, wieder wie als Kind meiner Phantasie Raum geben, sehe die Figuren vor mir. Schon einige Male haben Bücher mich bis in meine Träume begleitet, und die Geschichten ersponnen sich erneut oder ganz anders.
Es ist zu einem wundervollen Ritual geworden, welches beide von Mal zu Mal mehr zusammenschweißt.
Es sind Ferien, und das Mädchen ist wie so oft ein paar Tage zu Besuch bei ihrer Omili. Sie sehen sich nicht oft, schreiben sich aber viele Briefe und stehen sich dadurch sehr nahe.
Die Oma steht in der Küche und bereitet das Mittagessen vor. Plötzlich hält sie inne, lauscht in die Wohnung und beginnt zu lächeln. Sie lässt das Messer sinken und geht in die Wohnstube. Ihre jüngste Enkelin steht vor dem Bücherregal und betrachtet die teilweise alten Buchrücken mit den vergilbten Seiten. Schon länger hatte sich die ältere Dame gesagt, keine neuen Bücher mehr zu kaufen, aber ach… so manche Geschichte tat es ihr noch heute an. Und so gab es im Regal auch Bücher mit neuerem Einband.
Wie so oft bleibt der Blick der Enkelin an einer besonderen Reihe im Regal hängen. Sie blickt zu ihrer Omili auf wie um Erlaubnis zu fragen. „Wasch dir noch einmal die Hände und dann setz dich mit dem Buch in den Sessel.“ Wenige Augenblicke später zieht das Mädchen vorsichtig eines der schweren, ledergebundenen Bücher aus dem Regal, setzt sich und streicht mit ihren kleinen Händen über die goldene Schrift. Behutsam öffnet sie das Buch und blättert darin bis ihr Blick an einem Bild oder einem Wort hängenbleibt. Gemeinsam lesen sie den dazugehörigen Eintrag.
(Erinnerungen an meine Omili und wie wir einen weiteren Band der Brockhaus Enzyklopädie gemeinsam erobern)
Bücher.